Die erste Zeitzeugin, die von zwei Jugendlichen aus der Geschichtswerkstatt interviewt werden konnte, was Dietlinde Stehr. Frau Stehr wurde 1936 geboren. Als ihr Vater überraschend zum Balkan-Feldzug 1943 einberufen wurde, zog sie mit ihrer Mutter und ihren vier Schwestern von Seeba, wo der Vater Lehrer gewesen war, nach Meiningen. Sie erzählt den beiden Interviewenden Mathilde Lösser und Oscar Victor von ihrem Alltag während des Krieges, von ihren Ängsten und der Stimmung zuhause. „Unser Vater kam Weihnachten 1943 kurz zurück. Ich habe bis heute Ängste vor Uniformen. Wenn die Uniform da hing, diese Angst vor dem Abschied, der hat sich eingeprägt. Und das ist auch heute noch so. Unser großer Sohn war drei Jahre bei der Armee und kam dann auch am Wochenende in Uniform. Furchtbar!“ Neben dem Anblick von Uniformen waren für Dietlinde Stehr der Alarm und die Aufmärsche der HJ am schlimmsten.
Die Stimmung zuhause war seltsam. Der Vater im Krieg, der Onkel wurde ab 1943 vermisst. Er kam nicht wieder aus dem Krieg zurück. „Die Frauen zuhause haben nicht mehr gesprochen. Die Stimmung im ganzen Haus war bedrückt.“ Die Jugendlichen haben einen ganzen Fragenkatalog vorbereitet, wollten Details zur Kindheit erfahren, auch Details, die im ersten Augenblick nicht wichtig sind, aber im zweiten ganze Nachfolgegenerationen beeinflussen können. So fragten die Jugendlichen nach bestimmten Liedern, die Frau Stehr als Kind gesungen hat oder die gesungen wurden. Oft bestimmten Lieder aus der Kriegszeit auch die Kindheiten der folgenden Generationen. Doch Frau Stehr kann sich nicht an Lieder erinnern, nur an Marschlieder, die ihr Angst machten. „Wir waren eine musikalische Familie. Aber Lieder wurden zuhause dann nicht mehr gesungen.“ Im Verlauf des Gesprächs fällt Frau Stehr ein, dass Svetlana viele russische Lieder gesungen hatte. Über diesen Umweg erfuhren wir von der sowjetischen Zwangsarbeiterin, die im Haus der Eltern Haushaltsgehilfin war. „Ich weiß nicht mehr genau, ich glaube, sie hieß Svetlana. Sie konnte gut Deutsch und kam unter Zwang nach Deutschland.“ Svetlana, die sehr lustig war und den Mädchen viele russische Lieder vorgesungen hatte, erzählte den Mädchen, dass sie weiß, dass Stalin sie nach dem Ende des Kriegs bestrafen wird. Stalin ließ ehemalige Zwangsarbeiter*innen nach Sibirien deportieren, da er diese Menschen, die von Nazis verschleppt wurden, um für das deutsche Volk Sklavenarbeit zu leisten, als Verräter*innen ansah. Svetlana musste nach dem Krieg zurück, ein weitere traurige Situation für Dietlinde und ihre Schwestern.
Noch während des Kriegsverlaufs kam der Vater zurück. Er hatte „nur“ ein Bein verloren. Frau Stehr war glücklich ihren Vaterzurückzuhaben, denn viele Kinder wuchsen ohne Vater auf, weil „der Vater im Krieg geblieben ist“, eine Beschreibung, um das unbeschreibliche des Krieges, den Tod der männlichen Familienangehörigen, auszusprechen.
Am Ende des Gespräches wollten die beiden Jugendlichen wissen, wann Dietlinde Stehr Glück empfindet. „Wenn wir alle zusammen waren, meine Eltern, meine Schwestern und ich. Das waren für mich die glücklichsten Momente.“