7. April 2020

Paul Oestreicher

Die Familie Oestreicher

Dr. Paul Oestreicher war ein angesehener Kinderarzt in Meiningen. Er war verheiratet mit der nichtjüdischen Kammersängerin Emma Schnaus. Der Sohn, der mit Vornamen ebenfalls Paul heißt, wurde 1931 geboren. Die Familie Oestreicher lebte in der Bernhardstraße 7. In dem Haus befand sich auch die Kinderarztpraxis. Direkt gegenüber stand das Meininger Theater, in dem die Ehefrau Emma oft Auftritte hatte.

Dr. Paul Oestreicher in seiner Meininger Praxis, Bild: Paul Oestreicher.

Im Ersten Weltkrieg meldete sich Dr. Oestreicher freiwillig als Soldat. Sein Sohn Paul beschreibt ihn als Patrioten, der gerne für sein Vaterland gekämpft hat. Dr. Oestreicher kam als Offizier aus dem Ersten Weltkrieg zurück und erhielt als Auszeichnung das Eiserne Kreuz Erster Klasse. Später konventierte er zum Christentum. Der Übertritt zum Christentum und  auch die Ehe mit einer „arischen“ Frau schütze die Familie nicht vor Verfolgungen. Als Träger des Eisernen Kreuzes durfte Dr. Oestreicher einige Zeit länger Arzt bleiben als andere jüdische Ärzte. Doch 1938 erhielt auch er Berufsverbot. Kurze Zeit später warf der Hausbesitzer die Familie aus der Wohnung, und ihr Bankkonto wurde gesperrt. Oestreichers kehrten Meiningen den Rücken und versuchten Deutschland so bald wie möglich zu verlassen. In Berlin gelang es Dr. Oestreicher, die Erlaubnis  für eine Einwanderung nach Neuseeland zu bekommen. Das nötige Geld bekam er über einen ihm unbekannten Helfer.

Dr. Paul Oestreicher in seiner Meininger Praxis, Bild: Paul Oestreicher.

Die Flucht gelang kurz nach der Reichspogromnacht. Der Sohn Paul war damals sieben Jahre alt. Im Rückblick schrieb er:

„Weihnachten. Kein Christbaum. Kein Weihnachtsmarkt. Nichts von der sentimenalen Romantik deutscher Festlichkeit. Unter dem Kreuz des Südens stehen die Sterne ganz anders, viel heller und klarer. Es beginnt ein langer, heisser Sommer. Nichts erinnert an die europäische Heimat im Monat Dezember in Neuseeland.

Die Flucht aus Thüringen hatte Mitte 1938 begonnen. Zwei jüdische Eltern genügten, um meinen Kinderarzt Vater arbeitslos zu machen. Die Suche nach Asyl hatte begonnen. Im Berliner Untergrund lebte ich siebenjährig, meist von meinen Eltern getrennt, bis die Reise in das fremde Exil möglich wurde.

Die zerschlagenen Fensterscheiben der jüdischen Kaufhäuser habe ich noch in lebendiger Erinnerung.

Die sechswöchige Seereise bleibt bis heute mein grösstes Abenteuer. Juni 1939 mein Schulbeginn, ohne ein Wort der Sprache zu verstehen. Kinder lernen aber schnell. Mein Vater musste die drei klinischen Jahre des Medizinstudiums wiederholen, um wieder arbeiten zu dürfen. Meine Mutter musste verdienen.

Am 1. September fing der Zweite Weltkrieg an. Nun waren wir als  deutsche Flüchtlinge plötzlich “enemy aliens”, feindliche Ausländer. Wie sollte es da positiv weitergehen? Nicht ohne Tränen über die verlorene Heimat und die hinterlassenen Eltern und das alte Europa im Krieg.

Mitte Dezember fängt der lange Universitätsurlaub an. Zehn lange heisse Wochen. Wie kann man da Geld verdienen? Ein befreundeter Arzt sagte meinem Vater, er habe einen Bruder, der eine Schaffarm besitze, er könne im Sommer immer einige Landarbeiter mehr beschäftigen und seine junge Frau, aus der Stadt kommend, brauche Hilfe im Haushalt. Ausgemachte Sache.

Also, Vater, Mutter und Kind per Bahn aufs weite Land, bezaubernd schöne Landschaft. Der Zug hält in einem winzigen Ort. Der Farmer ist da, um uns abzuholen. Es geht über staubige Schotterwege und durch ausgetrocknete Flussbetten mehr als eine Stunde lang. Kein Mensch weit und breit aber Schafe, Schafe, Schafe in diesem Land wo damals 1,5 Millionen Menschen lebten und etwa 70 Millionen Schafe. Die Farm,Wyndham Station, streckt sich über ein Mittelgebirge und breite Täler. Der nächste Nachbar ist 25km entfernt. Der Reichtum besteht aus ca. 12,000 Schafe, 25 Pferde, teils beritten, teils noch wild und zwei Milchkühe für den Hausgebrauch. Hier lernte ich schnell zu reiten und zu melken.

Etwa 250m von Farmhaus, ein Bungalow aus lokalem Holz,  lag unser Ferienasyl, unser Ferienidyll, wie es meine Mutter nannte, eine Holzhütte aus einem grossen Raum und zwei winzigen Schlafräumen. Ein grosser Kessel hinter der Hütte;uuteHhh  sammelte das von der Dachrinne kommendes Wasser. Wellblech deckte das Ganze. Meine Mutter, aus thüringer Bauerngeschlecht kommend, wusste mit all dem, auch dem eisernen Kochherd Jahrgang 1895, umzugehen. Für meinen städtischen Vater war das, als sei er in einem Straflager gelandet. Die riesigen bunten wilden Lupinen, die das Häuschen umringten, waren für ihn kein Trost.

Ich begeisterte mich für die schönen Pferde, die um die kleine Herberge wanderten und sich manchmal zum Spass jagten und zuweilen paarten, meine erste Sexualkunde. Dies sei aber kein Gesprächsthema, wie man mich belehrte, das machten Pferde eben so. Bei Nacht waren wir umgeben von zirpenden Insekten.

Meine Bettlektüre: The Adventures of Robin Hood.

Des Abends kam mein Vater völlig erschöpft von der Arbeit: Urwaldbäume roden, Zäune erneuern, Karnickel – eine Massenpest – in ihren Höhlen vergasen. Das Treiben der Schafe auf frische Waiden ist aber Sache des reitenden Farmers selbst mitsamt seiner hochtrainierten Hunden. Im Frühling waren die Teams der Schafscherer gekommen, ein hochdotierter Beruf. Im Sommer wird die ölige Wolle sortiert und für den Weltmarkt gepackt. Auch das ist harte Arbeit bei hoher Hitze. Ich liebte den Geruch und wälzte mich in den Bergen von Vliesen.

Aber auch hier hörte am 25. und 26. Dezember alles auf. Heilig Abend ist in der britischen Welt keine Zeit zum Feiern und britisch war Neuseeland ganz gewiss, dem Mutterland treu, von vielen als Home, Heimat, bezeichnet. Des Farmers Familie war schottischer Abstammung, also reformierte, nicht anglikanische

Christen. Die Weihnachtsgeschichte wurde im Familienkreis gelesen und Lieder aus dem schottischen Gesangbuch wurden gesungen.

Die junge Frau des Farmers, die von meiner Mutter lernte, wie sie aus der Milch ihre eigene Butter machen konnter, konnte das alte Klavier gut spielen. Das Christmas Dinner wurde mit grossem Ernst ganz britisch traditionell vorbereitet. Das gute Fleisch, wie könnte es anders sein, war Lammfleisch mit Gemüse aus eigenem Garten. Und dann der Plum Pudding mit Weinbrand übergossen und brennend auf den Tisch gebracht.

Und wir drei in unserer Hütte? Unter Tränen und Lachen entstand der eigene Lammbraten und dazu, siehe da, Hütes, Meininger rohe Klösse. Diese hohe Esskultur aus der schlichten Kartoffel der armen Thüringer Wald-Bauern war also exportierbar. Und all das auch ohne Christbaum, nur mit einigen Fichtenzweigen. Zur Vorspeise gab es Aalsuppe, denn Aale gab es massenhaft im Fluss, der durch die Farm lief. Nur wussten die Neuseeländer nichts damit anzufangen. Meine Mutter versuchte sie des besseren zu belehren, wahrscheinlich erfolglos.

Diese zehn Wochen bleiben unvergesslich, vom Muskelkater meines Vaters angefangen bis zu meiner Pferdeliebe, die ein Leben lang geblieben ist. Weihnachten wurde hier zum Wesentlichen erhoben. In diesem Exil war die Mutter und das Kind im Stall, die bald selbst auf der Flucht waren, viel näher zur erlebten Wirklichkeit als dies in Deutschland möglich gewesen wäre. Süss erkligende Glocken waren in weiter Ferne. Das göttliche in jedem Kind passt zu jedem Milieu. Der damals wie heute unerfüllte Wunsch nach Gerechtigkeit und Frieden auch. „

(Quelle: Oestreicher, Paul: Weihnachten unter dem Südkreuz. Eine deutsche Familie im Exil, vom Verfasser 2011 per Mail zugeschickt.)

Dr. Paul Oestreicher mit Sohn Paul in Berlin 1938, Bild:Paul Oestreicher.

1942 erhielt die Familie im Exil der Abschiedsbrief der Mutter bzw. Großmutter, Else Oestreicher. Sie hatte ihn kurz nach dem Umzug in das Judenhaus und vor ihrem Freitod geschrieben. Darin hieß es:

Wie jeder tapfere Kapitän sein Schiff versenkt, ehe er es dem Feind in die Hände fallen lässt, so versenke ich auch mein Lebensschifflein, um es dem Feind nicht auszuliefern.“

Bis heute kennen wir nicht alle Namen und Schicksale der Bürgerinnen und Bürger Meiningens, die Opfer der nationalsozialistischen Rassenideologie waren. Circa zehn Meininger haben die Deportationen überlebt und kamen zurück. Mehr als achtzig Meininger sind verschwunden, von ihnen fehlt jede Spur, so auch von Bella und Rosemarie Aul.

Paul Oestreicher kehrte immer wieder nach Deutschland und in seinen Geburtsort Meiningen zurück. In Neuseeland wurde er in der deutschen Sprache und Kultur erzogen. Nach der Schule studierte er Politik, u.a. mit einem Stipendium in Bonn. Gemeinsam mit seiner Frau Barbara Einhorn, die auch Kind deutsch-jüdischer Flüchtlinge ist, lebt Paul Oestreicher heute in Brighton. Er gehört der Religionsgemeinschaft der Quäker an und bekennt sich zum Pazifismus. Seit 1995 ist Paul Oestreicher Ehrenbürger der Stadt Meiningen. 2011 war er bei der Verlegung des Stolpersteins für seine Großmutter anwesend und hielt eine bewegende Rede. In Meiningen feierte er auch seinen 80. Geburtstag, zu dem er ein Apfelbäumchen geschenkt bekam. Gemeinsam mit Kindern des Kinderhauses Regenbogen pflanzte Paul Oestreicher den Baum in den Garten des Kindergartens und schrieb in einem offenen Brief an die Meininger:

„Dem folgte wohl der schönste Moment in dieser für mich so erlebnisreichen Woche, nämlich ein Übergang vom Tode ins neue Leben. Frau Superintendentin Beate Marwede schenkt mir im Namen der Kirchgemeinde einen Apfelbaum, den ich mit Hilfe der Kinder im Garten des Kinderhauses „Regenbogen“ pflanzen durfte. Dieser Baum und die Kinder, die dabei geholfen haben, sind Zeichen einer hoffnungsvollen Zukunft. Das verpflichtet mich geradezu, jedes Jahr zur Apfelernte nach Meiningen zu kommen!“

(Quelle:www.meiningengegenrechts.de/index.php?option=com_content&task=view&id=432&Itemid=41)

Die beiden Ehepaare Marwede und Oestreicher im Garten Kinderhauses Regenbogen, September 2011. (Quelle: Beate Marwede).
Zeichnung des Apfelbaums von Ilana aus dem Kinderhaus Regenbogen, 2012.

Im Herbst 2015 erarbeitete die Geschichtswerkstatt Meiningen gemeinsam mit dem israelischen Künstler Boaz Balachsan einen Animationsfilm zu Pauls Flucht.